Eine Woche radikal fasten, weit weg von der Hektik des Alltags. Wie fühlt sich das an? Ein Selbstversuch in Kärntens ältestem noch bewohntem Kloster.
Text: Kerstin Holzer
Der Waldweg führt durch sonnenfleckiges Moor, Holzplanken überbrücken ein Bächlein, auf der Wiese erzählen Schneeglöckchen etwas vom Frühling. Unsere Gruppe stapft über Wintergras, es riecht nach aufgeweichter Erde und zirpt betörend. Dieser milde Märztag könnte so schön sein, würde Bianca, die Fastentrainerin, nicht wieder mit dem Einlauf anfangen. Ob ich denn keine Rückvergiftung fürchten würde, wenn ich ihn verweigerte? Und ob ich mir noch kein Symbol für meine Fastenzeit erwählt hätte? Während ich Abwehrendes murmele, erreichen mich Gesprächsfetzen: "… innere Arbeit leisten …" Und, heftig: "Was heißt das, ich könne nicht loslassen?" Und dann, wirklich wahr, stolpere ich über ein leeres Schneckenhaus, fast fünf Zentimeter groß. Mein Symbol. Jetzt werde ich mir anhören müssen, ich solle da raus.
Tag drei: Überschwappende Emotionen
Krisentag der Fastenwoche im Stift St. Georgen, einem barocken, blaßgelben Gemäuer auf einem Hügel oberhalb des Längsees in Kärnten, umgeben von Wiesen und anmutigen, noch mit Schnee bedeckten Bergzügen. Während in der ehemaligen Klosterküche im Wasserbottich Karotten ihrem Verzehr um 18 Uhr entgegensieden, schwappt der emotionale Haushalt der 22 Teilnehmer am dritten Tag des Nahrungsverzichts über. Der Entlastungstag (Apfel, Gemüse) entsprach noch vertrauten Diätkategorien. Der erste Fastentag (Glaubersalz) stand unter dem Schock des Abführens. Den zweiten Tag (Tee, Gemüsesud) prägte ein schwindeliges Gefühl zwischen Schwips und Ohnmacht.
Übelkeit, Kreislaufschwäche, Mandala-Zeichnen
Am dritten Tag wird es ernst. Bei Nahrungsmangel werden die Stresshormone Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, Leber und Muskeln beginnen, ihre Energiespeicher zu leeren. Bei den einen nehmen Kopfschmerzen und Dünnhäutigkeit zu, während bei anderen schon die Ausschüttung des Glücks-hormons Serotonin einsetzt. Bitter enttäuscht hadert die 28-jährige Martina aus Salzburg mit ihrem Entschluss, sich als Auszeit vom harten Job als Intensivkrankenschwester Fasten anstelle einer Woche Club Med verordnet zu haben. Die Wander- schuhe setzen den Takt ihrer Litanei. Sich spüren wollte sie, nachdem sie sich allzu erfolgreich gegen alles, was ihr naheging, abgeschottet hatte. Und nun das: Übelkeit, Kreislaufschwäche, Mandala-Zeichnen. "Heilfasten", höhnt sie bleichgesichtig, "na, ich bin geheilt."
"Der Besuch des inneren Tempels"
Christina hingegen, Therapeutin aus Graz, wirkt eher high. Die 57-Jährige, dünn, blond, eine Dior- Sonnenbrille über hellblauen Kinderaugen, umarmt während des Marsches impulsiv eine Birke. Beim Frühlingsfasten ist sie Stammgast. Von Selbstfindungskursen über Kilimandscharo-Besteigungen hat sie während der letzten 30 Jahre alles unternommen, um glücklich zu werden. Nichts, beteuert sie, stärke wie Fasten: der Besuch des inneren Tempels. Als Heiligtum betrachten einander Hildegard, 43, und Roland, 31, die eine gemeinsame Grenzerfahrung machen wollen. Als seien sie auf Hochzeitsreise, lösen die beiden Berchtesgadener, auch heute entspannt und strahlend, nicht die Hände voneinander: Wer von Luft und Liebe lebt, hat immer gute Laune.
Bis fünf Kilo weniger, schönere Haut, innere Ruhe
Spirituelle Sinnsuche, eine Verschnaufpause während der Hetze durchs Leben oder nur der Wunsch, ein paar Kilo abzuspecken: 13 Prozent der Deutschen wollten im vergangenen Jahr während der 40 Tage vor Ostern Verzicht üben. Manche lassen nur die Finger von Alkohol und Süßigkeiten. Andere, wie die Fastenden in St. Georgen, verzichten gleich ganz aufs Essen: Die Buchinger-Lützner-Methode erlaubt morgens Kräutertee, mittags Saft, abends Gemüse- brühe. Das Versprechen: zwei bis fünf Kilo Gewichtsverlust, schönere Haut, innere Ruhe. Alle Weltreligionen glauben an die reinigende Kraft der Askese. Die Bibel sieht Fasten als Buße und seelische Säuberung. Der Hindu Mahatma Gandhi sagte: Was Augen für die äußere Welt sind, ist das Fasten für die innere Welt. Ja, das klingt schön.
Statt TV: Nachrichten von sich selbst
Auch wer zu Symbolen Distanz pflegt und zu Spiritualität: Wie Fasten funktioniert, leuchtet selbst Skeptikern nach wenigen Tagen ein. Es knackt den Menschen über die physische Schwäche: Der Körper geht an seine Reserven, die Seele auch. Hatte man vorher noch die Kraft, Konflikte auf Abstand zu halten, steigt nun vieles hoch. Der Körper entgiftet über die Haut. Die Seele reinigt sich mit Träumen.Die täglichen Abläufe schaffen Struktur: morgendliches Kneippen im eisigen Längsee, Massagen, Yoga, Leberwickel im einfachen Zirbenholzzimmer. Lange Spaziergänge durch die Wälder oder zur Burg Hochosterwitz. Eine rustikale Outdoor-Jacke gehört zur Basisgarderobe. St. Georgen ist kein Wellness-Tempel: keine flauschigen Bademäntel, kein esoterischer Klangteppich, keine Gigolos auf Millionärinnenjagd. Kein Handy, kein TV, keine Zeitungen. Stattdessen: Nachrichten von sich selbst.
Abendlicher Eklat um angebrannten Haferschleim
Am frühen Abend begibt sich die Fastengemeinde ins Kaminzimmer. Die Fastentrainerinnen strecken die Arme aus, man reicht einander die Hände. Martina lächelt den Erfolgsarchitekten aus Klagenfurt an, die fidele Freundinnentruppe aus München unterbricht ihre Scherze, sogar das Liebespaar aus Berchtesgaden wendet sich Biancas Wort zum Abend zu: Wer zu genießen verstehe, könne auch verzichten. Allzu viele könnten nicht mehr verzichten, weil sie das Genießen verlernt hätten. Gesegnete Mahlzeit! Dann der Eklat: Der Haferschleim ist angebrannt. Hoteldirektor Mario Bergmoser eilt herbei und stellt sich der Empörung. Andrea, die gut gelaunte Kellnerin, trägt den Topf weg und kichert. Der Fastende ist ein heikler Gast.
Panik, an Entkräftung zu sterben
Ist das die neue Gelassenheit? Ich habe den Beigeschmack des Versengten nicht einmal bemerkt. Stillgelegte Verdauungsorgane kennen keinen Appetit. Vielleicht ist Fasten gerade für Undis- ziplinierte geeignet, die ohne Süßes, Zigaretten, ihren Kaffee nicht auszukommen glauben: Wenn es nichts gibt, gibt es eben nichts. Die Suche nach dem rechten Maß erledigt sich. Überhaupt wirkt das Einsetzen seelischer Mattigkeit kolossal erholsam. Nachdem die nächtliche Panik, an Entkräftung sterben zu müssen, überwunden ist, wächst das Zutrauen in die eigene Zähigkeit.
Erinnerungen an den verdammt schönen Alltag
Durch das tägliche Gerüst der Fastenrituale ranken sich frische Gedanken wie junge Triebe am Spalier. Es ist paradox: je stärker die Sicherheit, auch noch länger Nein sagen zu können, desto größer die Vorfreude auf ein Butterbrot mit Schnittlauch. Es ist der Verzicht, der an den verdammt schönen eigenen Alltag erinnert und nebenbei auch Gefühle wie Dankbarkeit und Vorfreude aufkommen lässt.
Urkunden für die "Neugeborenen"
Am Tag des Fastenbrechens steht der festlich gedeckte Tisch im Kaminzimmer voller Vasen mit Wiesenblumen. In den Fenstern hängen Mandala-Zeichnungen der Seminarteilnehmer wie Kirchenmosaike. Nach fünf Tagen Darben verzehren 22 festlich gekleidete Mitglieder der Fastenfamilie ihre erste Mahlzeit: rote, saftstrotzende Äpfel, eine halbe Stunde lang befühlt, beschnuppert, gekostet. Lächeln liegt auf vielen Gesichtern. Fastentrainerin Elisabeth überreicht Urkunden an die "Neugeborenen".
Abschied von Schneckenhaus
Vor der Abreise spaziere ich allein den Hügel zum See hinunter. Am verblichenen Holzsteg, von dem aus wir gestern zum Kneippen ins kalte Wasser gestiegen sind, lege ich mein Schneckenhaus ab. Zehn Fußminuten weiter, auf der Anhöhe neben dem Hochzeitskirchlein St. Peter, steht der Gasthof Liegl. Gemüse und Kräuter aus dem eigenen Garten, sämtliche Zutaten von heimischen Bauern, die Küche prämiert mit einer Haube. Spezialität: Kürbisterrine in Apfel-Chili-Gelee. Eigentlich auch kein schlechtes Programm für den nächsten Besuch.

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Foto: Jens Küsters; ADAC Reisemagazin
Der Stift St. Georgen am kärntner Längssee ist Kloster, Hotel und Bildungshaus zusammen. Wer sich traut, belegt ein Fastenseminar.